Sahra Wagenknecht werden mangelnde Distanz zum SED-Regime und sogar dessen Verherrlichung vorgeworfen. Das trifft auch ihre Partei. Die Thüringer BSW-Spitzenkandidaten wollen vor der Landtagswahl entsprechende Vorwürfe entkräften – auch durch das Gedenken an die Mauertoten.
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Wo einst der Traum von einem Leben in Freiheit brutal endete, rasen heute Lastkraftwagen über die Bundesstraße 7. Katja Wolf und Steffen Schütz legen weiße Lilien an einem Baumstamm am Straßenrand nieder und schweigen. „Immer wieder emotional hier“, sagt sie dann. „Gänsehaut“, sagt er.
Die beiden Spitzenkandidaten des Thüringer Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) stehen an einer Allee aus Eschen, die entlang der ehemaligen Ost-West-Grenze gepflanzt wurde.
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Das „Baumkreuze“-Denkmal verläuft rechts und links der Bundesstraße. Wenige Meter sind es noch bis nach Hessen. Rostbraunes Gitter, getragen von Betonpfeilern, riegelte hier einst die DDR ab. Gut 100 Menschen verloren nach aktuellem Stand am über 700 Kilometer langen thüringischen Grenzzaun und im Todesstreifen ihr Leben.
Nach der Landtagswahl Anfang September könnten Wolf und Schütz eine gewichtige Rolle bei der Regierungsbildung einnehmen. Ihre im Januar gegründete Landespartei liegt in Umfragen knapp hinter der CDU. Nur die AfD ist deutlich stärker. Doch am Dienstag, dem Tag des Gedenkens an die Abriegelung der DDR von 1961, wollen die ehemalige Eisenacher Oberbürgermeisterin und der einst in der Werbebranche tätige Unternehmer ein Zeichen des Gedenkens setzen. Und gegen Kritik ankämpfen.
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Denn einige DDR-Bürgerrechtler warfen ihrer Parteichefin Wagenknecht kürzlich vor, eine Lügnerin zu sein. Sie warnten davor, dem BSW die Stimme zu geben. Wagenknecht verbreite „antiukrainische Propaganda“ im Sinne Russlands. Sie schrieben gar: „Lügen und Desinformation – eine uns aus der DDR wohlbekannte Praxis.“ Marianne Birthler, eine der Verfasserinnen des Briefes, sagte im WELT-Interview: „Wagenknecht bedient sich der klassischen Tricks von Demagogen.“
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Der SED-Vorwurf sei ihm nahe gegangen, sagt Schütz am Rande des Grenzzauns. „Ich selbst hatte Probleme mit der Stasi, das Leben hier hat mich eingeengt.“ Er habe seine Heimatstadt auch wegen der Stasi in Richtung Berlin verlassen, sagt der gebürtige Eisenacher. Seine Großmutter sei bereits zuvor in den Westen geflohen. Es ist nicht das erste Mal, dass der 57-Jährige eine vermeintliche Nähe seines Thüringer BSW zur SED abstreiten muss.
Als Mike Creutzburg, gerade frisch für das BSW in den Kreistag von Gotha gewählt, im Juni aus der Partei austrat, warf der Partei vor, „Steigbügelhalter“ für alte Linke- und SED-Kader zu sein. Der Vorwurf war ein tagelanger, bundesweiter Medien-Aufreger.
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Schütz hielt dagegen: Mit der DDR habe man nichts zu tun, nur fünf der 23 Listenkandidaten seien in der SED gewesen – keiner von ihnen hänge an der DDR.
„Sahra war zu DDR-freundlich in einer Jugendphase“
Parteichefin Wagenknecht wurde in den 1990er-Jahren als knallharte DDR-Verherrlicherin bekannt. Kurz vor der Wende trat sie in die SED ein, als die DDR-Staatspartei schon vor dem Zerfall stand und ihr die Mitglieder davonliefen. Nach der Wende dann trat Wagenknecht anfangs noch einer Verurteilung des Unrechtsregimes entgegen, engagierte sich in der Kommunistischen Plattform, nannte den Bau der Mauer ein „notwendiges Übel“.
Heute hat Wagenknecht einige Wandlungen durchlaufen – ihre damaligen Aussagen lehne sie heute ab. „Ich ging damals davon aus, dass es keine Alternative zur Mauer gab. Heute meine ich, es hätte eine geben müssen“, sagte Wagenknecht der „taz“ 2010. Sie sei damals sehr jung gewesen, sagt sie heute.
Auch Wolf betont die Entwicklungen Wagenknechts. „Sahra war zu DDR-freundlich in einer Jugendphase“, sagt sie beim Spaziergang am Zaun. „Aber das ist 30 Jahre her.“ Auch sie selbst habe als Jugendliche Dinge gesagt, die sie heute dämlich finde, etwa als junge Linke mit 16 in der Talkshow von Bärbel Schäfer. Man müsse Wagenknechts Aussagen aber auch im Kontext der Zeit sehen. „Eine Demokratiebewegung kippte in eine Konsum- und Anschlussbewegung.“
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Der Westen sei zu dominant aufgetreten, die Leistung der Bürgerbewegung gegen den Unrechtsstaat nicht ausreichend gewürdigt und beachtet worden. Die Kritik von Birthler und den anderen Bürgerrechtlern nennt Wolf „schmerzhaft populistisch“. Der Vorwurf, man unterstütze die Einschränkung der Pressefreiheit in Russland, sei „völlig absurd“. So kurz vor der Wahl wirke der Aufruf parteipolitisch motiviert. Birthler ist Mitglied der Grünen.
Schütz sagt, er habe die Vergangenheit Wagenknechts bei seinem ersten Kennenlerngespräch mit der heutigen Parteichefin angesprochen. „DDR, Kommunistische Plattform, Unrechtsstaat-Debatten“, so habe er im Gespräch aufgezählt, „das geht alles nicht“. Wagenknecht habe sich verständnisvoll gezeigt, erzählt Schütz an diesem sonnigen Tag im August. Damit sei das Thema für ihn erledigt gewesen. „Ich habe auch mal an Dinge geglaubt, die ich heute schwierig finde.“
Mehr als 1000 Bäume wurden als Teil des Baumkreuze-Projekts seit 1990 gepflanzt. Sie sollen eine Verbindung zwischen dem thüringischen Eisenach und dem hessischen Kassel sein, wie Mitinitiator Ralf-Uwe Beck erklärt. Das Projekt knüpfe an Joseph Beuys’ „Erweiterten Kunstbegriff“ und dessen Projekt in Kassel an. Gleichberechtigt aus der Mitte heraus in beide Richtungen werde gepflanzt. Seit der Wende kommt der Bürgerrechtler an jedem ersten November-Samstag her, pflanzt mit 50 bis 80 wechselnden Mitstreitern weiter.
Wolf und Schütz kennt er seit Jahren – sie arbeiteten in Eisenach bei der erfolglosen Bewerbung um das „Zukunftszentrum Deutsche Einheit“ zusammen. Der Zaun verrottet langsam, der Wald gedeiht. „Die Allee wächst über den Zaun hinaus und zeigt: Hier war mal was“, sagt Beck. Das Denkmal soll auch in vielen Jahren noch ein Lernort sein, um über Grenzen zu sprechen. Selbst ehemalige Grenzsoldaten mit ihren Enkelkindern treffe er hier. „Wenn Europa zur Festung gemacht wird, ist das hier der Ort, darüber zu sprechen.“
Schwierig findet Beck indes einige Äußerungen der BSW-Chefin. „Mein Eindruck ist, Wagenknecht stellt eine Tonne nach der anderen auf, damit die Leute reinkotzen können.“ Lösungen präsentiere Wagenknecht hingegen nicht. „Zu wenig Idee, zu wenig Problemlösung.“ Das mache sie anfällig für Populismus. Das Programm des Thüringer BSW hingegen mache Hoffnung auf mehr Bürgerbeteiligung.
„Meine Kinder steigen in den Flieger nach Bali, ohne Visum“, sagt Wolf, nachdem die 48-Jährige mit Schütz die Blumen niedergelegt hat. „Die ehemaligen Grenzen vor der eigenen Haustür verstehen sie emotional nicht.“ Wolf war schon häufiger am Denkmal. Mal spendete sie als Oberbürgermeisterin des benachbarten Eisenachs Bratwürste für das alljährliche Pflanzen, mal kam sie mit Familie. Sie werde wiederkommen. „Ich versuche, meinen Kindern Demut vor offenen Grenzen beizubringen.“
Politikredakteur Kevin Culina ist bei WELT zuständig für die Berichterstattung über das Bündnis Sahra Wagenknecht und die Linkspartei. Seine Artikel finden Sie hier.